Schloss Reichenau – „…das alljährlich ersehnte Endziel von uns Ferienkindern zwischen 1880 und 1900“.
Seit dem Ableben des Stadtzürcher Arztes Dr. Willy von Muralt schlummern seine 1942 in Sils-Maria festgehaltenen Ferienerinnerungen im Familienarchiv von Muralt, über welches das Staatsarchiv des Kantons Zürich wacht. Sie halten nicht ohne Wehmut die entschwundene Welt der Belle Epoque, der Postkutschen auf staubigen Strassen und endlos langen, mit Entdeckungsgängen im Schloss und der Umgebung, Spielen und Verwandtenbesuchen verbrachten Sommertagen auf dem mütterlichen Schloss in Reichenau fest. Die Notizen von Willy von Muralt geben aber auch Einblick in die Lebensweise und in die Tafel- und Wohnkultur der Bündner Nobilität zwischen 1880 und 1900; sie weisen ebenfalls auf die enormen sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede innerhalb der Bevölkerung hin.
Willy von Muralt wurde am 26. Mai 1876 in Zürich als Spross einer eigentlichen Medizinerdynastie geboren. In männlicher Deszendenz war die Familie seit Generationen als Ärzte tätig gewesen, so auch sein Vater, Wilhelm von Muralt (1845-1937). Seine Mutter, Clothilde von Muralt, geb. von Planta-Reichenau (1854-1938), entstammte der Linie von Planta-Reichenau, besass zusammen mit ihrem Bruder Alfred (1857-1922) Schloss und Güter Reichenau, weshalb man die Sommerferien regelmässig hier verbrachte.
Die Eltern Wilhelm und Clothilde von Muralt-von Planta bewohnten an der Rämistrasse 18 in Zürich den 1. Stock des prächtig gelegenen Wohnhauses „Im Garten“ oberhalb des Bellevue-Platzes. Im 2. Stock wohnten die Grosseltern, Dr. med. Leonhard (1806-1891) und Henriette von Muralt-Hirzel (1812-1880). Die Grosseltern mütterlicherseits, Adolf (1820-1985) und Ursina (1829-1898) von Planta-von Muralt bewohnten im Sommer Schloss Reichenau, im Winter das Stadtzürcher „Haus zum Kiel“ am Hirschengraben 20.
Willy von Muralt, Ästhet von gewinnendem Äusseren und ebensolchen Umgangsformen, der spätestens nach seiner Studentenzeit von der Verwandtschaft, von Freunden und Bekannten „der schöne Willy“ genannt wurde und dem es an hingebungsvoll zugeneigter Weiblichkeit nicht fehlte, heiratete am 4. Mai 1905 Helene Bodmer (1878-1959), die Tochter des Zürcher Seidenindustriellen Martin Bodmer (1835-1908), Eigentümer der Unternehmung „Hans Conrad Bodmer & Sohn“, ab 1902 Aktiengesellschaft „Banco Sete“.
Nach jahrzehntelanger ärztlicher Tätigkeit mit eigener Praxis erlitt Willy von Muralt zu Beginn der sechziger Jahre zwei Schlaganfälle, er verstarb am 26. November 1964. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof Hohe Promenade.
Wechselvolle Geschichte der Herrschaft Reichenau
Die besondere Geografie von Reichenau drückt und drückt der Örtlichkeit ihren Stempel auf: Vorderrhein und Hinterrhein vereinigen sich zum Alpenrhein, drei Haupttäler treffen zusammen, zwei alte Transitrouten gabeln sich zum Lukmanier- und zum Splügenpass. Vor allem aber: Die rheinüberquerende Brücke rief früh nach einer Zollstation, dem heutigen Hotel Adler. Im Verlaufe der Jahrhunderte Annexbetriebe wie ein Gutsbetrieb, eine Pferdewechselstation mit Schlosserei, Wagnerei und Schmiede.
Die Herrschaft Reichenau-Tamins und das 1742 erbaute Schloss weisen eine reiche Geschichte mit zahlreichen Besitzerwechseln auf. Die Herrschaft Reichenau-Tamins wurde kurz nach 1580 durch die Herren von Schauenstein erworben, diese bereits im frühen 14. Jahrhundert sehr wohlhabende und einflussreiche churerische Ministerialen im Domleschg. Während die Schauenstein im Verlauf der Jahrhunderte eifrig nach materiellen Gütern und nach Einfluss streben, dünnte sich im selben Masse die genealogische Kontinuität aus. Am Ende des langsamen Aussterbeprozesses standen zwei Schauensteiner, der unvermählte, in Diensten von Kaiser Karl VI. stehende Thomas Franz Graf von Schauenstein sowie seine Schwester Emilie. Graf Thomas Franz vermachte 1742 die Herrschaft Schauenstein seinem Schwestersohn Johann Anton Buol unter der Bedingung, dass er Namen und Wappen der Schauenstein weiterhin führen werde. Die Söhne des Johann Anton Buol-Schauenstein verblieben kinderlos, deshalb gelangte die Herrrschaft Reichenau an den Neffen Johann Anton Baptist. Auch hier - zwei Generationen später erlosch mit Karl Ferdinand das Geschlecht der Buol-Schauenstein. 1792 hatte Johann Rudolf, der Vater von Karl Ferdinand, die Herrschaft Reichenau-Tamins mit dem Münzrecht, dem Zollregal, den Gütern, Gebäuden und dem Inventar für die stolze Summe von 133'000 Gulden an die Teilhaber des Speditionshauses Bavier, Simon und Johann Baptist Bavier, Georg Anton Vieli und Johann Baptist von Tscharner verkauft. Letzterer, ein gebildeter und sehr initiativer Mann, Oberzunftmeister, Stadtvogt und Bürgermeister in Chur, Landvogt in Tirano, übernahm in Reichenau die Regie und gründete 1793 mit seiner Erfahrungen von pädagogischen Instituten in Haldenstein und in Jenins ein Seminar in Reichenau. Sein berühmtester Lehrer sollte Louis Philippe, der spätere „Bürgerkönig“ von Frankreich (Louis Philippe I.) während den Jahren 1830-1848, werden. Als „Monsieur Chabos“ war der Duc de Chartres und nachmals Duc d’Orléans im Oktober 1793 von den Wirren der Revolution nach Reichenau geflüchtet und bis im Juni des folgenden Jahres als Pädagoge tätig wo er die Fächer Französisch, Geschichte und Geometrie unterrichtete. 1798 marschierten die Österreicher in Graubünden ein, in Schloss und Dorf Reichenau wurden 400 Dragoner einquartiert, Tscharner musste nach Stäfa fliehen. Französische Truppen verjagten im März 1799 die Österreicher, besetzten mit 80 Mann das Schloss, welches erneut Maltraitierung und Plünderung erleiden musste. 1806 kehrte Tscharner in das schwer beschädigte Schloss zurück und verkaufte seinen Anteil an die Gebrüder Bavier. Während der Mediationszeit wurde Schloss Reichenau Sitz einer St. Galler Bergwerkgesellschaft mit Gruben in Schams, Truns und am Calanda. Auf dem Schlossgelände wurden Schmelzöfen und eine Steinhauerei erstellt und betrieben. An den bescheidenen Ertrag der goldhaltigen Kalkspat-Ader am Calanda erinnert eine 1813 mit Calanda-Gold geprägte Goldmünze.
Nach einem kurzen Intermezzo eines Auslandbündners, der mit dem Kauf von Schloss Reichenau eine persönliche steuerliche Optimierung anstrebte, erwarb 1819 Hans Ulrich von Planta-Samaden (1791-1875) Gebäude und Einrichtungen. Er hatte 1814-1819 als Hauptmann in holländischen Diensten gestanden, in der Schlacht von Waterloo gefochten und sich, mittlerweile eidgenössischer Oberst und Mitglied der Militärkommission, in Zürich 1828 und 1832 als eidgenössischer Tagsatzungsgesandter zur Verfügung gestellt. Er liess die Gebäulichkeiten sowie den Garten in der Formensprache des Klassizismus wieder als eigentlichen Herrschaftssitz herrichten. In der Planta-Familiengeschichte figuriert er als Begründer des Zweiges Reichenau.
Ab 1875 und ab 1895 heissen die Erben Adolf von Planta (1820-1895) und dessen Nachkommen Clothilde (1854-1938), Alfred (1857-1922), Maria (1859-1932) und Hermann (1864-1917). Adolf von Planta richtete als Chemiker im Osttrakt des Schlosses ein Laboratorium, eine naturwissenschaftliche Forschungsstätte zur Wirkung der Bündner Heilquellen, der Agrikulturchemie und der Bienenkunde ein; er gilt als verdienter Förderer der heimischen Bienenzucht. Alfred von Planta-von Waldkirch, vielbeschäftigter Unternehmer, Politiker und Gesandter in Rom (1915-1918) und in Berlin (1919-1922), sah Reichenau als Refugium für sich und seine Familie. Krankheiten und Kuren prägten verschiedene Mitglieder seiner Familie. Im Februar 1922 schob der Vater seine anstrengenden Geschäfte zur Seite und besuchte seinen schwer tuberkulosekranken Sohn Ernst (1896-1922) in Davos. Vergeblich die letzte schwache Hoffnung: Am 28. Februar starb der Sohn, der Vater erlitt an gleicher Stätte eine Lungenentzündung und erlag dieser zwei Tage später, am 2. März 1922. Die älteste Tochter, Gertrud von Planta, geb. 1887, heiratete als Erbin von Reichenau Arthur Schöller, den Enkel des 1865 aus dem schlesischen Düren/Breslau zugewanderten Textilunternehmers Rudolf Schöller. Die Tochter aus dieser Verbindung heiratete den Urenkel des obenerwähnten Johann Baptist von Tscharner. Damit gelangte Reichenau wieder in Tscharnerbesitz. Der heutige Eigentümer heisst Gian-Battista von Tscharner, er widmet sich mit zwei Mitarbeitern um Park und Maschinen sowie einem weiteren Mitarbeiter um den Weinbau auf 5,5 Hektaren in Maienfeld, Jenins, Chur und Felsberg.
Ferienerinnerungen an Schloss Reichenau (Willy von Muralt-Bodmer)
Schloss, Nebengebäude und beherrschender Postverkehr
Jenes Reichenau, das ich jetzt für die wenigen, die es noch gekannt haben, aufleben lassen möchte, ist nicht die Bahnstation nach Chur, die man auf der Fahrt ins Engadin rechts liegen sieht. Es ist das Sommerheim unserer Grosseltern Planta, das alljährlich ersehnte Endziel von uns Ferienkindern zwischen 1880 und 1900. Durch die rumpelnde, gedeckte Holzbrücke fährt man auf das holprige Pflaster des Platzes, rechts die weissleuchtende Façade des Spätempire-Schlosses, gegenüber der „Adler“ mit seiner gelbgerahmten Sonnenuhr und links, etwas erhöht, der liebevoll gepflegte vordere Garten. Davor stehen die hölzernen Krippen für die Postpferde.
Denn von hier aus zweigen die Postlinien nach Flims, über den Splügen, nach Ilanz und ins Engadin ab; für einige ist hier Pferdewechsel. Dazu sind, etwas unterhalb, die grossen Stallungen da, die, jetzt unbenützt, mit dem „Mattlihaus“ , dem „Adler“, dem „Salvatorenhaus“, in dem unten der Doctor wohnt, der „Schmidte“, dem Haus von Toni und den Schweineställen, alle dem Grosspapa gehören.
Das Leben auf diesem Platz wird vom Postverkehr beherrscht, er gibt dem Reichenauer Leben den Rhythmus. Da sind die schönen, gelben Postkutschen mit acht Plätzen, vier innen, die beiden vornehmsten vorn im Coupé, und oben die beiden allerschönsten im offenen „Juhé“. Wir kennen die meisten Postillone mit ihren flachen, schwarzen Wachstuchhüten und den kurzen, krausen Bärten, die [mit ihren Peitschen] so schön „klöpfen“ können. Dann kommen aber auch Extraposten, zwei- und vierspännig, und man bestaunt die Fremden und wüsste gerne, wer sie sind und wohin sie reisen. Einmal fuhr die Königin von Holland mit Gefolge durch, ich weiss nicht wohin. Dazu bekamen die Postillone graue „Gwänder“, man sollte wohl sagen Livréen. Noch nach Jahren erkannte man diese Grauen, wie Bergführer gekleideten „Holländer“. All dies Treiben mit Aus- und Einspannen, Kommen und Gehen, mit dem ständigen, von den Älteren gefürchteten Reichenauer Staub und Wind, liegt in meiner Erinnerung in warmer, heller Sonne. Durch die vielen Pferde gab es auch eine Unmenge Fliegen, die an allen Fenstern summten und welche abends in den käseglockenartigen Fliegengläsern einen schwarzen, ringförmigen Bodensatz bildeten.
Die alljährliche Reise von Zürich nach Reichenau
Schon die Reise war jeden Juli ein Erlebnis: Die vielen Tunnels dem Walensee entlang zu zählen und im Dunkeln durch die seitlichen Löcher einen Blick auf den See zu erhaschen, die obligate Bratwurst in Weesen, die wir, zur Hälfte mit Papier umwickelt, abbeissen durften, und zu der wir, mehr als Medizin denn als Genuss, aus der mit dunkelrotem Leder überzogenen Feldflasche einen Schluck Wein bekamen. Papa im hellgrauen Sommeranzug mit weisser Piquetweste, Strohhut und einer schwarzen Ledertasche, die sonst nie erblickt wurde, an langem Lederriemen schräg über die Schulter gehängt. Die schöne Mama in oben enganliegendem Kleid, in dem sie meist „bei dieser Hitze erstickte“, und das sich nach unten über einer stattlichen Tournure bauschte. Wir in blau und weiss gestreiftem Waschanzug (der meine hatte noch Kirschenflecken vom letzten Sommer), die Botanisierbüchse am roten Band umgehängt und den Naphtali-, später Piquethut auf dem Kopf, ich zudem mein Schmetterlingsnetz unzertrennlich in der Hand. Zum Handgepäck gehörte ausser der Plaidrolle und dem braun und grau karierten Schirm- und Stockfutteral auch eine dunkelbraune, würfelförmige Holzkassette, die einen kleinen Topf für den Benjamin enthielt. So langte man nach fünf- oder sechsstündiger Fahrt in Chur an, wo der Kutscher, zuerst Christian Koch von Tamins, später Peter Hunger aus dem Prättigau, mit dem „grossen Grauen“ oder dem „kleinen Grünen“ am Bahnhof wartete. Es waren dies Landauer, die ihren Namen nach der Farbe des inneren Tuchbezugs hatten. Der Kutscher mit Zylinder und dunkelgrüner Livré imponierte uns gewaltig; sein schwarzer, struppiger Bart gehörte dazu und erregte nirgends Anstoss. Wenn Grosspapa uns abholte, dann trug er einen Staubmantel, ein in der Reichenauergarderobe unerlässliches Kleidungsstück. Durch den sehr regen Postverkehr war die Strecke Chur-Reichenau die staubigste der Schweiz, die bei trockenem Wetter von einer 10 Centimeter hohen Schicht weissen, mehlartigen Pulvers bedeckt war, der jedes Fuhrwerk in einen dichte Wolke hüllte. Deshalb war man gezwungen, auch beim heissesten Wetter die Wagenfenster geschlossen zu halten, was nicht hinderte, dass der Staub durch alle Fugen drang und sich innen am Wagendach meisten ein paar Bremsen [Stechfliegen] festsetzten, auf die dann während der Fahrt Jagd gemacht wurde.
Ankunft in Schloss Reichenau
Zu meinen frühesten Erinnerungen gehörte jene Ankunft, als die gedeckte, hölzerne Brücke abgebrannt war. Da fuhr man, von der Fahrstrasse rechts abbiegend, auf einer eigens angelegten Rampe zum Rhein hinunter direkt auf eine Fähre, die den angespannten Wagen samt Inhalt übersetzte. Drüben ging es dann ziemlich steil empor, um über den schmalen Weg zwischen Eiskeller und Bongert auf dem Platz zu landen. Dann fuhr man nicht „vor“ sondern „ein“. Nicht nur die beiden grossen Flügeltüren der Haustüre, sondern auch die abgerundeten Oberflügel waren mit einer besonderen Stange geöffnet worden, und man fuhr in den gepflasterten Durchgang, um an der breiten Steintreppe, die dort landet, zu halten. Da stund, durch das scharfe Getrappel, das durch das ganze Haus hallte, denn es gehörte dazu, im Trab einzufahren, Grossmama mit ihrem schwarzen Spitzenhäubchen und half bewillkommnend beim Aussteigen. Wir aber durften noch zusehen, wie die Türen gegen den hinteren Garten geöffnet wurden und Christian hinaus und in die Remise kutschierte.
Kutscher Christian Koch und die Geburt eines kleinen Bruders
Neben Christian, meinem besonderen Freund, sass ich an einem Abend (jetzt weiss ich, dass es am 17. August 1882 war) in der grossen, dämmerigen Küche auf der lehnenlosen, hölzernen Bank und schaute ihm in stiller Andacht zu. In den penetranten Stallgeruch, der seinen blauen Fuhrmannsbluse entströmte, mischte sich der scharfe Duft einer mächtigen Zwiebel, die er mit seinem Sackhegel [Sackmesser] in dicke Scheiben schnitt und zwischen seinen gelben Zähnen zerkrachte. Dazu trank er Most und ass Brot. In dieses erstaunliche Tun war ich so versunken, dass ich es als Störung empfang, als jemand kam und mir sagte, ich habe ein Brüderchen bekommen, ich dürfe hinaufkommen, es ansehen. Von oben weiss ich nur noch, dass ich mich wunderte, weshalb Mama schon vor dem Nachtessen zu Bett gegangen sei.
Architektur und spannendes Inneres von Reichenau
Was Reichenau, von der Bahn aus gesehen, seinen besonderen Charakter verleiht, ist der lange, klosterartige Flügel, der, in der Kapelle mit ihrem hübschen Dach und dem Türmchen endet, in schrägem Winkel an den weissen Würfel des Haupthauses anstösst. Bei dessen Neubau wurde er als einziger Teil des alten Schlosses stehen gelassen. In demselben zieht sich, über Stall, Remise, Waschküche, Hühnerhaus und Laboratorium die Galerie hin, rechts eine lange Reihe von Fenstern, links etwa 10 Türen, die zu den verschiedenartigsten, geräumigen Zimmern führen. Vor den Fenstern sind eiserne Stützen angebracht, auf denen auf besonderen Brettern an der prallen Sonne erst die Kirschen, und dann, auch an Schnüren festonartig aufgehängt, Äpfel- und Birnenschnitze trocknen. Merkwürdigerweise kamen wir nie auf den Gedanken, von denselben zu stibitzen.
Nun aber zu den Türen. Die erste ist immer geschlossen, die zweite führt in schmale, dunkle Werkzeugskammer, die, weil dort alles verrostet und unbenutzt ist, uns auch nicht interessiert. Dann kommt das Badezimmer, eine grosse Stube, in deren Tannenboden links an der Wand eine Blechwanne eingelassen ist, zu der einige Holzstufen hinunterführen. Am Fussende befindet sich ein langer, eiserner Hebel, mit dem das warme Wasser aus der darunterliegenden Waschküche mühsam heraufgepumpt wird. Ich höre noch das klopfend-glucksende Geräusch, mit dem samstags jeweilen die Zubereitung eines Bades durch das ganze Haus verkündet wurde. Dann kommt Regulas Zimmer, so genannt nach einer Magd der Urgrosseltern , die ausser diesem Namen keine Spuren auf uns hinterlassen hat. Es beherbergte ausser zusammengelegten Bettladen, Vorhangsstangen, an Gurten von der Decke herabhängenden Matratzen und Nachttischchen auch zwei schöne Empiremöbel aus Mahagoni und Bronze, die später wieder zu Ehren gezogen wurden. Unsere grosse Attraktion aber war der zweitürige Glasschrank, in dem die Erinnerungen und Merkwürdigkeiten, die Grosspapa von seiner Palästinareise heimgebracht hatte, ein friedliches und nur durch uns gestörtes Dasein führten. Da waren die übliche Jerichorose, eine Wasser- und eine Opiumpfeife, Perlmuttschnitzereien, ein arabisches Schreibzeug, ein geweihter Rosenkranz vom heiligen Grab, ein vergoldetes Glasflacon mit Rosenöl, dessen leiser Duft die ganze Vitrine durchzog, und eine Flasche mit Jordanwasser, deren zur Taufe des ersten Kindes bestimmter Inhalt schon damals längst verdunstet war. Natürlich gewannen all diese Dinge erst Leben, wenn Grosspapa, was ein einziges Mal geschah, sie uns erklärte und von seiner Reise mit einer eigenen Karawane etc. erzählte. Das Hauptstück war ein Koran, weil es den Gläubigen bei Todesstrafe verboten sei, einen solchen an Ungläubige zu verkaufen. Dann kommt in der Mitte der Bügelsaal, dessen Besonderheit schon von aussen durch eine ornamentale Doppeltüre betont ist. Es ist der ehemalige Festsaal, dessen Schönheit sich allerdings in dem jetzigen Zustand bloss noch erraten lässt. Reste von leichtem Rokkoko-Stuck mit polychromen und vergoldeten Spuren bedecken Decke und Wände, in beiden abgeschrägten Ecken sind Marmorkamine, vor dem einen, zugemauerten befindet sich ein eiserner Bügelofen. Das imposanteste Möbel ist jetzt die riesige Mange aus hellgelbem, lackiertem Holz mit grossen Feldsteinen in den Behältern, auf deren Deckel wir uns, zur Vermehrung des Gewichtes, setzen durften, wenn sie die Mägde auf den hölzernen Walzen hin und her schoben.
Das Haus Orléans
Nächste Türe wieder verschlossen, dann das Philippinenzimmer. Eine weisse, über der Tür eingelassene Marmortafel sagt, dass Louis Philippe d’Orléans , aus Frankreich geflohen, hier incognito in dem damaligen Erziehungsinstitut (von welchem unser Urgrossvater Reichenau kaufte), als Lehrer tätig war. Da dies Zimmer, wie übrigens auch Garten und Gewächshaus im Baedecker als besondere Sehenswürdigkeit erwähnt war, benutzten Durchreisende öfters den Postaufenthalt, um es zu besehen und sich in das aufliegende Buch einzutragen. Auf das bewusste Glockenzeichen eilte das Zimmermädchen mit durch das winkende Trinkgeld beschleunigten Schritten, zur grossen Haustüre. Waren es Bekannte oder solche, die zum Haus Orléans in Beziehung standen, dann wurden sie Grosspapa gemeldet, und es machte ihm Freude, selbst den Fremdenführer zu spielen. Der hübsch möblierte, zweifenstrige Raum enthält allerlei Erinnerungen an Louis Philippe, vor allem zwei grosse Ölbilder von Winterhalter , das eine den eleganten, jungen Prinzen in ganzer Figur als Lehrer mit Globus und Büchern darstellend, das andere den König in grosser Uniform mit den Kroninsignien. Hinter einem dunklen Repsvorhang ist ein dunkler Alkoven, in dem wohl das Bett stand und rechts eine Türe, die in einen kleinen Raum mit primitiver Holzsitzgelegenheit und rundem Deckel führt. „Da setz Dich hin“ sagte Grosspapa, „dann kannst Du sagen, Du seiest am selben Ort gesessen, wo ein König gesessen hat.“
Als Grosspapa als junger Mann in Paris war, wurde er zur Hoftafel eingeladen und liess sich dazu, als Schweizer Schützenhauptmann, eine phantastische Galauniform anfertigen, die wir im Verkleidungskasten bewunderten. Ein dunkelgrüner, feiner Tuchfrack mit vergoldeten Knöpfen, hechtgrauen Kaschmirhosen mit Souspieds und dazu ein gewaltiger Zweispitz à la Murat mit imposantem Federbusch. Beim Gefrorenen hob der König sein Glas gegen Grosspapa mit einem: „En souvenir des glaces de Kunkels , Monsieur de Planta!“ Demnach war er selbst nie auf dem grünen, schneelosen Maiensäss gewesen.
Das zoologische Kabinett und das Laboratorium
Weiter wieder eine verschlossene Tür, dann das spätere Bureau von Onkel Alfred vor dessen Verheiratung. Damals war es unbenutzt, an den Wänden hingen Papiere, Bänder, rote, grüne und blaue Mützen und Fechtmasken als Erinnerung an die Corpsstudentenzeit in Heidelberg und Zürich. Auf einem Holzgestell standen eine Anzahl grosser, grüner Flaschen, die allerlei, zum Teil erstaunlich grosse Schlangen in Spiritus enthielten, die im Laufe der Jahre in Reichenau getötet worden waren. Zwei kleine, weisse [Flaschen] enthielten einen sieben Meter langen, von uns gebührend bestaunten Bandwurm, den Onkel Alfred als Student beherbergt hatte. Dies kleine zoologische Kabinett mit ein paar ausgestopften Vögeln wurde, als das Zimmer für Onkel Alfred geleert werden musste, von Grosspapa, Nazi [d.h. dem Gärtner], Toni, Hannes und mir in feierlicher Prozession auf die damals neue, eiserne Brücke getragen und in den Rhein geworfen. Zu Grosspapas Erheiterung erschien einige Zeit darauf in einem Lokalblättlein eine Notiz über merkwürdige Schlangenfunde am Rheinufer bei Ragaz.
Hinter der letzten Türe führt eine steinerne Treppe hinunter zur Kapelle, in der meine Eltern getraut und ich getauft worden war. Die dahinterliegende, winzige Sakristei war in ihrer verstauten Unordnung auch eine Quelle unserer Neugierde. Und nun gegenüber das Laboratorium, als sich Grosspapa als Chemiker und Privatgelehrter eingerichtet hatte und in dem er in den ersten Jahren seiner Ehe mit dem berühmten Kékulé arbeitete. „Schön sein ist nicht schön, schön tun ist schön, sagt Freund Kékulé“, blieb aus dieser Zeit ein oft wiederholtes Zitat. Schon der Geruch war eindrucksvoll und dann all die Flaschen, Retorten, Reagenzgläser und sonderbaren Apparate, Decimalwaagen, die man vor allem nicht berühren durfte, und so weiter.
Ein paar Stufen tiefer ist nebenan die reinste Hexenküche mit gewaltigem, gemauertem Kaminhut und Geräten, die das Gruseln noch wesentlich vermehrten. Ein Fest, das ich leider nur zweimal erlebte; einmal meinem Freund Henri Naville zu Ehren, war es, wenn uns Grosspapa hier Experimente vormachte und sich wasserhelle Flüssigkeit im Reagenzglas plötzlich dunkelblau oder rubinrot färbte, oder wenn aus einem Porcellanschälchen ohne Erhitzen zauberhaft ein dicker Kohlebrei emporquoll.
Da vorhin von Gruseln die Rede war, darf doch die Galerie bei Nacht nicht unerwähnt bleiben. Beim Betreten sah man sie, beinahe endlos, der Boden regelmässig von schrägen Vierecken des durch die Fenster fallenden Mondlichtes geisterhaft erhellt. Darüber galt es nun allein, bis zur Kapelle vorzudringen und ohne zu rennen wieder zurückzukehren. Pfeifen oder Singen war erlaubt. Grosspapa kontrollierte nicht, aber er versprach 10 Rappen. Der furchtbarste Moment war, wenn man, mit Gänsehaut im Rücken, die ganze hohl hallende Länge entlang bei der halb offenen Kapellentüre ankam, durch welche die farbigen Glasscheiben unheimlich blinzelten. Eine grüne [Glasscheibe] rechts war ganz besonders tückisch. Wäre die Türe wenigstens ganz offen gestanden. Aber da umzukehren und nicht davonzurennen, war eine Leistung und die 10 Rappen waren sauer verdient.
Kinderspiele
Manchen Regentag sassen Martha [von Muralt, Schwester des Autors], Ida Degiacomi, Evi Salvator und vielleicht noch andere Kinder mit mir auf dem Boden dieser Galerie, spielten das unerschöpfliche „Wir kommen aus dem Mohrenland“ oder fuhren abwechselnd auf dem rumpelnden und quietschenden, roten, eisernen Veloziped die im Tageslicht so ungefährliche Galerie hin und her. Ein weiterer erinnerungsreicher Ort ist das Billard, ein saalartiger, hoher Raum, dessen mit einfachem, rohem Getäfer verkleidete Wände ganz mit Militärbildern überdeckt sind, was ihm noch heute einen ganz besonderen Reiz verleiht. Oberhalb des Getäfers stehen Familienbilder, unter denen sich merkwürdigerweise neben Pompejus und Rudolf Planta auch Jürg Jenatsch befindet. Die Mitte des Raumes nahm das enorme Billard ein, das, mit sechs durch grüne Netzsäckchen nach unten abgeschlossenen Löchern versehen, in der Mitte seines grünen Tuches einen grossen, rostroten, landkartenförmigen Fleck aufwies, als deren Urheberin auf die ständig wiederkehrende Fragen eine Katze angegeben wurde. Nach Aufrollen der an beiden Schmalseiten mit Rundhölzern versehenen Schutzdecke wurde hier an Regentagen eifrig von Gross und Klein Caroline gespielt, wobei dann später Martha an Eifer alle anderen übertraf.
Die Bibliothek und das Croquetspiel im Emserwald
Eine Tür, die meist geschlossen war, führte in die Bibliothek. Dieser kühle, gewölbte Raum, dessen Läden immer geschlossen waren, empfing sein Licht nur durch den obersten, halbrunden Teil der Fenster, der unverschlossen blieb. Somit war die Bibliothek offenbar mehr zum Abholen als zur Lektüre von Büchern bestimmt. Ich kann mich nicht erinnern, dass je jemand die vorhandene Bibliothekleiter bestiegen oder, ausser mir, einen Band aus den langen Reihen herausgenommen hätte. Von all dieser Gelehrsamkeit war mir einzig die Lektüre von vier dicken Folianten mit prächtigen Kupferstichen, die „Tausend und eine Nacht“ enthielten, verboten. Ich glaube, es blieben die einzigen Bücher, die ich hier, trotz schlechten Lichtes, von A bis Z durchgelesen habe.
Betreten wurde die Bibliothek eigentlich nur nach dem Tee, um die daselbst aufbewahrte Ausrüstung für das Croquet zu holen. Sie bestand aus der langen, ziemlich schweren Croquetkiste, deren Schleppen über die heisse, staubige Brücke und den Stutz zum Emserwald hinauf mir doppelt mühsam erschien, da ich dieses Spiel nie ausstehen konnte. Unerlässlich war auch in ihrer zerknitterten, schwarzen Wachstuchhülle die Hängematte, in die, zwischen zwei Lärchenstämmen aufgehängt, Martha oder ein anderes Opfer mehr oder weniger widerstrebend hineingepackt und meist recht unsanft geschaukelt wurde. Dann kamen ein paar hölzerne Klappstühle für die Damen und ein grosser Plaid [Reisedecke] dazu.
So beladen, zog man dann, Grossmama mit Entoutcas und Shawl, Mama, Tante Marie , später Tante Ida , selten Onkel Alfred, nie Grosspapa, bisweilen Papa und wir Kinder hinüber zum Emserwald, da wo jetzt der Bahnhof steht und hämmerten die eisernen Bögen in den unebenen Waldboden.
Die „Varenda“ und das Reichenauer „Gut“-Deutsch
Im Gegensatz zu der meist geschlossenen Bibliothekstüre stand, nach dem hinteren Garten hin, die Doppelglastüre den ganzen Tag offen, durch die man, über eine steinerne Stufe, zur „Varenda“ gelangte. Es ist dies kein Schreibfehler, sondern eine der Eigentümlichkeiten des Reichenauer „Gut“-Deutsch. Seit der Urgrossmutter , die eine Holländer-Planta war, und aus deren offenbar sehr ansehnlichen Mitgift Reichenau gekauft und erbaut wurde, sprach man hier „Gutdeutsch“, was durch deutsche Hauslehrer und Winteraufenthalte der ganzen Familie in Stuttgart in solchem Masse befestigt wurde, dass Mama und Tante Marie ihr ganzes Leben nie Bündnerdeutsch lernten. Der einzige Versuch nach der Landessprache hin war Mamas Besuch der Taminser Dorfschule, der schon nach drei Tagen kläglich scheiterte, als sie von dort Läuse heimbrachte.
Ausser der „Varenda“ sagten alle Reichenauer „Grossmama“ und „Grosspapa“, mit kurzem „o“ und scharfem „s“, was ich mir später nur mit Mühe abgewöhnte. Diese „Varenda“ also, ist noch heute beinahe unverändert, ein rechts durch das Mattlihaus, links durch eine Wand mit Fenster und oben durch ein stark vorspringendes Dach geschützter Raum, dessen Boden, gleich wie die Durchfahrt, mit eigrossen Kugelsteinen gepflastert ist, denen eingelegte, weisse Kreise einen gewissen Schmuck verleihen. Das Fenster hatte, im Geschmack der Mitte des vorigen Jahrhunderts, farbige Scheiben. Während im Laufe der Jahre die meisten durch weisses Fensterglas ersetzt wurden, hielt sich lange noch ein grosses, dunkelblaues Viereck, das sich meiner besonderen Anhänglichkeit erfreute.
Rechts war an der Wand der niedere, grüngestrichene Kindertisch mit entsprechenden Stühlen, daneben, gegen den Garten hin und zwischen Ranken einer wilden Rebe, die Schaukel. Sicherheitshalber war sie rings von mittelst Kugeln an den Seilen verschiebbaren Stäben umgeben. Wie oft haben wir da, Hans und Elsi Schwerzenbach, die Reichenauer Cousins, Tilly und Adolf etc. „wild“ geschaukelt. Die linke Ecke, unter jenen blauen Scheibe, nahm und nimmt ein rechtwinkliges Sofa ein, davor ein grosser, runder Tisch. Hier fand, punkt 8 Uhr, das Frühstück statt. In der Mitte, auf niederem Fuss, eine hölzerne Drehscheibe, auf der sich die Krüge und Kannen, Butter, Honig etc. befanden. Die Butterkugeln, deren Herstellung zwischen gerippten Brettchen wir in der Küche bestaunten, schwammen zwischen Eisstückchen in einer Glasschale. Der eigene Honig, Grosspapas Stolz, hiess Schleuderhonig, da seit kurzem eine Zentrifuge angeschafft wurde, durch welche die Waben schonender und gründlicher entleert werden konnten. War er besonders klar, dann meinte Grosspapa lächelnd: „Beinahe so schön wie künstlicher.“
Jedes Jahr wurde ein Anlauf genommen, den Tee auf dem benachbarten, schattigen Platz unter den Kastanien zu nehmen. Entweder aber wehte der Wind die Servietten auf den Boden oder liess das Teewasser nicht sieden, es fiel von den Bäumen etwas in die Tassen oder Wespen wurden angelockt, kurz, es blieb bei dem einen Mal.
Reichenauer Hausordnung und Tafelfreuden
Nun aber zur Reichenauer Hausordnung. Sie wurde durch die Turmglocke geregelt, die (ich weiss nicht mehr, ob auch zum Frühstück) kurz vor ½ 1 Uhr, 4 Uhr und ½ 8 Uhr von dem Zimmermädchen mittels eines Seils, das, in einer Schlaufe endend, in den Seitengang des ersten Stocks herunterhing, geläutet. Meist sahen wir, wenn wir, um pünktlich zu sein, vorbeirannten, das Seil noch lange nachbaumeln. Nach dem schon erwähnten Frühstück hielt Grossmama eine Morgenandacht, die uns recht lange schien, weil wir mit unseren Gedanken meist anderswo waren. Dann wurden mit Mama Aufgaben gemacht, meist unter den Kastanien im vorderen Garten, bei Regen im gelben Zimmer an einem Sekretär, der in einer seiner Schubladen noch kleine, weisse und orangengelbe Obladen [Gebäck] enthielten, von denen wir, bis sie zu Ende waren, naschten.
Je schöner das Wetter war, desto grösser die Geduldsprobe, bis es endlich 10 Uhr war. Da traf man, meist in den Küchenregionen, Nazi, den grauhaarigen Gärtner mit einem Gehilfen. Der brachte in den länglichen Krättli mit seitlichem Henkel im Juli rote und schwarze Kirschen, dann „weisse Sommergewürzäpfel“, Aprikosen, Pfirsiche die ganz besonders guten „Renekloden“ [Reineclode, Edelpflaume], Mirabellen, Heubirnli und später die herrlichen Magdalenen- und Williams-Butterbirnen. Daneben kamen aber auch Melonen, von denen Grosspapa die Netzmelonen besonders schätzte und zu denen in den Zucker immer etwas Pfeffer gehörte, weil es weniger „kühle“.
Dieser Obstsegen wurde auf verschiedene Fussschalen des dunkelblauen Wedgewoodservice, welche mit Kastanienblätter belegt waren, verteilt, zum Zehnuhr, zu Tisch und zum Vieruhr. Nach dem Obst-Zehnuhr (Bei uns Zürchern „Znüni“) war man bis zum Mittagessen frei und streifte in den Kuh- und Schweineställen der Pächter, beim Toni mit dem mächtigen grauen Bart, bei Salvator’s (sprich „Salfetoor“), beim Schmid etc. umher, landete aber meist auf dem Sand am Rhein. Da waren die Erlebnisse unerschöpflich. Beim Anlegen von Kanälen und Seen entdeckte man barfuss etwa eine Groppe oder einen Wasserkäfer, fand unter den Steinen allerhand Getier und erkletterte einen grünlichen „Felsen“, der, kaum mannshoch im Sand bis auf eine nieder Kuppe verschwunden ist.
Viel zu früh erschallte vom Turm die Mittagsglocke, und man lief, um sich die Hände zu waschen und notdürftig den Sand aus den Haaren zu bürsten. Die Mahlzeiten in dem hohen, kühlen Speisesaal, mit seiner hellen, gross-grüngemusterten Tapeten, die zum Glück erhalten geblieben ist und den colorierten, englischen Stichen, mit den beiden, bis zur Decke reichenden Empire-Spiegeln und den zwei blitzenden Kristallkronleuchtern waren eine feierliche Angelegenheit, die, obleich sie für uns Kinder nichts Bedrückendes hatte, und uns das Sprechen bei Tisch auch nicht verboten war, der kindlichen Lebhaftigkeit doch einen gewissen Dämpfer auferlegte.
Fangen wir mit Suppe und „Haidetatsch“ an. „Haide“ (Buchweizen) wurde damals um Ems noch häufig angebaut und leuchtete in langen, rosa Rechtecken zwischen den Kartoffel-, Bohnen-, Runkelrüben- und „Türgga“ (Mais)-Äckern hervor. Sein dunkles Mehl wurde zu verschiedenen Speisen verwendet. „Tatsch“ entspricht unserer „Chratzete“, dünne, in kleine Stücke geschnittene Omeletten. Der „Tatsch“ wurde zur Suppe serviert und so wie die gerösteten Brotwürfelchen hineingestreut. Dann Haidapizoggel (Spätzli), auch Krautpizoggel, die mit viel Käse herrlich schmeckten. Krautkräpfli, wie die jetzt üblichen Ravioli, waren mit Spinat und Weinbeeren gefüllt. Der Salat wurde von Grosspapa feierlich bei Tisch angemacht und zu unserem grossen Erstaunen mit etwas Zucker bestreut.
Bei besonderen Gelegenheiten gab es Taubenpastete, so bei Onkel Alfreds Verlobung (allerdings in Zürich), die ich seither nie mehr gegessen habe. Maluns, dieses herrliche Bündner Nationalgericht, lernte ich erst viel später kennen, in Reichenau gab es das nicht, ebensowenig wie Capuns, die massiven, schwerverdaulichen Knödel. Eine von Mama geschätzte Besonderheit, für die wir Kinder weniger Verständnis aufbrachten, waren die selbstgemachten Beinwürste. Das Allerbeste waren die Walderdbeeren, die von armen Frauen und Kindern im Krättli, mit frischen Blättern bedeckt, gebracht wurden. Wir bekamen sie entweder frisch mit Rahm (Grosspapa nahm etwas Rotwein dazu) oder als Erdbeerschnitten oder, was der Gipfel war, als Erdbeercrème in einer schönen Kristallschale.
Krebsfang, Holz- und Marmorsägerei, Schnecken-Wettessen
Nach Tisch hielten die Erwachsenen ihre Siesta und wir zogen aus. Es wurden im Bongert oder in den Weinbergen Schmetterlinge und Raupen gefangen, denn natürlich hatte ich eine Schmetterlingssammlung, man streifte im Farsch bis in die Campagna oder wagte sich durch den dunklen Tunnel vom hinteren in den vorderen Garten, stieb über den grossen Estrich, durch dessen brütende Hitze dumpf der Rhythmus des Pendels der grossen Turmuhr hallte, auf den kleinen Balkon des Turms, von dem wir von der brennenden Sonne bald zurückgetrieben wurden.
Oder dann gingen wir, seitdem ich durch den jungen Hannes aus der Campagna in die Geheimnisse dieser Kunst eingeweiht worden war, bei der Weihermühle krebsen. Dazu musste erst ein Dispens vom obligatorischen Vieruhr eingeholt werden, denn es war ein Ausflug, ein gutes Stück hinter Bonaduz. Da lagen wir stundenlang bäuchlings auf der sumpfigen Wiese und griffen mit Todesverachtung in die Löcher unter den überhängenden Rändern des klaren Baches, in denen sich die Krebse meist an den eindringenden Fingern festbissen. Stolz kehrten wir mit unserer Beute in der Botanisierbüchse heim und brachten eine willkommene Beigabe zum Nachtessen.
Dann lockten uns auch die Sägen, die damals noch zu Reichenau gehörten, die Holz- und die Marmorsäge. Es war atemberaubend, wie das lange, silberleuchtende Sägeblatt durch die Lärchenstämme zischte. Noch unfasslicher war es, dass es sich, in dem Schuppen nebenan, unter scharfem Kreischen, ständig von einem dünnen Wasserstrahl begossen, durch einen dicken Marmorstrahl fressenkonnte. Wenn der Sägepächter gut gelaunt war, schenkte er uns spielkartengrosse, auf einer Seite schön polierte Musterplättchen von weissem, schwarzem, grünen und braunrot geadertem Marmor.
Unter den Erlen bei der Säge sehe ich mich noch, neben einer stattlichen Elsässerin mit mächtiger, schwarzer Bandschleife auf dem Kopf, spazieren; es war die Amme von Elsi (Schwerzenbach). Hans trug damals noch einen Matrosenanzug mit Röckchen, weshalb Nazi, der blonde Enkel des Gärtners, von „die Hans“ sprach.
In dieser Gegend stand auch ein baufälliges, längst abgetragenes Häuschen, das von einem armen Tagelöhner bewohnt wurde. Als einzigen Jahreszins brachte er jeden Herbst aus seiner Schneckenzucht einen mächtigen Kartoffelsack schön verdeckelter Schnecken, die dann mit nach Zürich wanderten. Statt der üblichen Kräuterfülle wurden sie mit einem Deckel von Nüssen und geröstetem Brot versehen und schmeckten herrlich. Jeden Mittwoch waren [Schwester] Martha und ich zum Mittagessen am Hirschengraben 20 [bei den Grosseltern eingeladen, Bruder] Richard hatte später einen besonderen Tag. Da gab es zu meiner Freude regelmässig Schnecken, und dann hob ein Wettessen zwischen Grosspapa und mir an: „Wieviel hast Du jetzt? Zwölf. Vorwärts, vorwärts, ich hab’ schon sechzehn!“
Erstaunlich erscheint es uns jetzt, dass wir, schon mit 12 Jahren, jedesmal schwarzen Kaffee und ein Gläschen Persico [Likör] bekamen, ersteren in hübschen, altholländischen Schälchen (Compagnie des Indes). Ohne mir dabei etwas Böses zu denken, sagte ich einmal: „Gelt, Grossmama, wenn Du gestorben bist, bekomme ich die.“ „Du schofles Subject“, war die Antwort, ein von Grossmama öfters gebrauchter, gar nicht besonders streng, eher scherzhaft gemeinter Ausdruck. Mit einem Miniaturbildchen der Urgrossmutter Pool hat sie sie mir dann vermacht, und sie werden von mir in hohen Ehren gehalten.
Kindereinladungen
Nun aber zurück nach Reichenau. Einmal jeden Sommer gab es eine herrliche Kindereinladung mit Schokolade und Gugelhopf bei Tante Deta in Tamins, einer unverheirateten Cousine von Grosspapa, die das alte, gemütliche Haus bewohnte, das später von Bass-Albertini umgebaut und sehr vergrössert wurde. Der gewölbte Gang mit den schönen Bündnertruhen, die kühle Steintreppe und der terassenartig angelegte Garten, mit seinen altmodischen Buchshecken und dem Pavillon war etwas Einziges.
Das „Goûter“, zu dem, wie gesagt, die Turmglocke mahnte, war obligatorisch und man hatte pünktlich zu erscheinen. Zur Milch gab es vor dem reichlichen Obst, entweder Butterbrot mit Honig oder ein Biscutin, nie beides, und leider nie „Mütschli“ ein kleines weisses Brötchen [Brotanschnitt], die wir uns bisweilen, als Extra bene, mit einem geschenkten Fünfer beim Mattli holten. Mattli’s waren die Honorationen von Reichenau, sie eine stattliche, stille Frau mit schwarzem Spitzenhäubchen auf dem glatten, dunklen Scheitel, er ein freundlicher Postmeister, Bäcker und Ladenbesitzer, der dicke Sohn Florian, später Posthalter in Chur und die schöne Tochter Eva, die nachherige, frühverstorbene Frau Pfarrer Truog in Tamins. Ausser den „Mütschli“ war eine Attraktion der Backstube, dass wir dorthin die grössten Äpfel brachten, an denen man sich dann, in Brotteig gebacken, gewöhnlich den Mund verbrannte. Und der Laden! Schon das gewisse Klingeln beim Öffnen der grünen, mit fensterartigen Scheiben versehenen Türe klingt mir noch jetzt in den Ohren. Und drinnen der Geruch. Da hingen Sensen, Fuhrmannsgeisseln, Rollen von Schnüren, Zwiebelkränze, Mausfallen und Pfannen von der Decke, aber unwiderstehlich wurden unsere Augen nach rechts abgezogen, wo auf einem Fensterbrett in Reih und Glied die Deckelgläser mit den „Zuggerli“ standen. Das Erstrebenswerteste davon war dasjenige mit den weissen, von roten Pfeffermünzstengeln, in denen auch mancher Fünfer angelegt wurde. Im zweiten Rang kamen Degiacomi’s, die Wirtsleute im „Adler“, mit den Kindern Ida, dem schwerhörigen Paul und Robert, mit denen wir oft an Regentagen auf der Galerie oder im Heu spielten. Besonders lebhaft erinnere ich mich an die alte Grossmutter Valèr, die uns manchmal in ihrer Küche zum Holdermus einlud.
Gewächshäuser und die „geheiligte“ Rasenfläche
Wie zu Hause waren wir im Gärtnerhäuschen beim alten Nazi und seiner Schwester, dem immer lachenden, zwergenhaften Cathrineli. Punkt sechs Uhr schwankte es jeden Abend zwischen den dampfenden Kupferkesseln, denen ein säuerlicher Duft entstieg, durch den Garten und zeigte, im Vorbeigehen zum entfernten Schweinestall, grüssend seine langen, gelben Zähne. Um diese Zeit sassen nämlich, wenn nicht Croquet gespielt oder ein Spaziergang in die Weinberge, den Farsch oder die Campagna gemacht wurde, die Erwachsenen mit Handarbeiten vor dem Mittelbau. Zwischen den beiden Flügeln der Gewäschshäuser ist dies noch jetzt ein luftiger, damals aber viel sorgfältiger mit Blattpflanzen und blühendem Gewächs geschmückter Raum, in dessen Mitte hinten auf Tischhöhe ein Springbrunnen plätschert, dessen ovales Bassin von einem Moosteppich umrahmt wurde, auf dem eine weiss-rosa Muschel als Trinkgefäss lag, die später durch ein prosaisches Küchenglas ersetzt wurde.
Links, das im Sommer leere Kalthaus, rechts Grosspapas Augapfel, das Warmhaus. „Na, na, Türe zu“, hiess es, wenn man dieselbe noch so schüchtern öffnete, aus Besorgnis, dass sich die purpurroten, tiefvioletten und gefleckten Gloxinien, die damals eine Rarität waren, erkälten konnten. Lieblinge waren auch die Flamingos (Anturium), und wenn wir ganz artig waren, durften wir das Nolimetangere (Mimosa pudica) betupfen, dessen feine Blätter sich dann senkten und zusammenfalteten.
Vor dem Mittelbau stand rechts ein Eisengestell, mit einer mächtigen, spiegelnden Glaskugel, nach unten von drei kleineren, einer blauen, einer grünen und einer gelben umgeben. Auch sie wurde, als die Mode änderte, wie alles in Reichenau, das überflüssig war, eines schönen Tages in den Rhein geworfen.
Vor der Glaskugel führte der Weg am Ententeich oben auf dem Hügel (jetzt Schwimmbad) vorbei und auf der anderen Seite hinunter zum Russischen Kegelspiel. Das war sehr beliebt, bis wir hörten, dass sich Henri Naville [Schwager von Willy von Muralt] an dieser schwebenden Kugel anderswo ein paar Zähne ausgeschlagen hätte. Da verlor es an Reiz.
Weiter geht es durch einen künstlich angelegten Tunnel, der mit Tropfsteinen, Bergkristallen und Muscheln „romantisch“ geschmückt war, zum Chinesenkänzeli, steil über dem Zusammenfluss von Vorder- und Hinterrhein gelegen, wo man öfters Durchreisende traf, welche diese Sehenswürdigkeit nebst dem Garten besahen.
Die Hauptsache dieses Gartens aber, die ich zuerst hätte erwähnen sollen, ist der grosse, sorgfältig gepflegte, ebene Rasenplatz, dessen Betreten uns streng verboten war. Wagte sich trotzdem eines von uns auf diese geheiligten Boden, dann öffnete sich automatisch das bewusste Fenster von Grosspapas Zimmer und über den Platz erschall sein „Na, na, mach mir den Schimmel nicht scheu!“ In der Mittel dieses Rasens ist ein kreisförmiger Springbrunnen, von einem Eisengitter eingefasst, in dem Nazi mit seinem Gehilfen die Giesskannen eintauchend füllte und die umliegenden Beete begoss. Von diesen war jedes ein kleines Kunstwerk mit kreis- und rosettenförmigen Anordnungen nicht nur verschiedenartiger Blatt- und blühender Pflanzen sondern auch Bändern grauen und rotgelben Sands und verschiedenfarbiger Steine, die mosaikartig angeordnet waren. Das Kunstvollste waren zwei turmartige, mit Korkrinde überzogene Gestelle, die abgesägte Baumstämme vorstellten und von denen Geranien, Bethunien und Calceolarien herableuchteten.
Rechts und links vom Eingang standen grosse Datura-Pflanzen, die mit ihren langen weissen Trompeten jetzt auch kaum mehr zu sehen sind. Dass Ganze hatte bis auf die Aloes in den grauen Holzkübeln auf den Steinpostamenten, den etwas prätentiösen und repräsentativen Stil von 1860 bewahrt.
Zigeuner, fahrende Musikanten und Ausflüge
Das oben erwähnte Fenster öffnete sich auch, wenn Zigeuner oder fahrende Musikanten auf dem Platz ihre Künste zeigten. Einmal war es ein Savoyarde, der sein Murmeltier oder seine Äffchen mit rotem Kittel auf dem Leierkasten tanzen liess, dann Männer mit einem Kamel, auf dem auch Affen herumturnten und ein einziges Mal sogar ein Bär mit einem Ring in der Nase, der aufrecht auf seinen Hinterbeinen gravitätisch tanzte. Dann flog jedes Mal ein in Papier gewickeltes Geldstück herunter, und, wenn es Musikanten waren, dazu die Aufforderung: „Santa Lucia“. Grosspapa war, im Gegensatz zu seinen beiden jüngeren Kindern, gänzlich unmusikalisch und ich habe ihn nachträglich im stillen Verdacht, dass dies die einzige Melodie war, die er kannte.
Der Gipfel musikalischer Genüsse, auch für uns unmusikalische Kinder, war das Auftauchen der Familie Macciacchini, die sich drüben im „Adler“ produzierte. Da bestaunten wir ein wahres Variété und der Höhepunkt war die instrumentale Imitation von Tierstimmen vom lieblichen Lerchentriller über Bellen und Miauen bis zum Blöken, Meckern, Brüllen oder Grunzen. Da war Onkel Hermann in seinem Element, wenn er mit den Macciacchinis wetteiferte. Als ich einen auf dem Platz haltenden Zigeunerwagen aus der Nähe betrachtete, kam eine der Insassinnen hinaus und gab mir einen Kuss. Mama, die dies mit Grausen vom Fenster aus gesehen hatte und mir hinunterrief, ich solle sogleich heraufkommen, damit sie mir das Gesicht waschen könne, rief ich beruhigend zurück: „Ich hab’s schon abgeschleckt.“
Von der Zigeunerin kommen wir zum Zigeunerbraten, dem Hauptstück des alljährlichen Picnics. Unter sorgfältigem Beklopfen des Barometers durch Grosspapa und unter Berücksichtigung der bevorstehenden Wäsche sowie angemeldeter Besuche durch Grossmama wurde der wichtige Tag festgesetzt, bisweilen auch verschoben. Anfangs wechselte der Platz, nachher blieb es ständig bei einer weiten Lichtung rechts von der geraden Strasse durch den Versamer Wald. Dahin wurde zwei Mal mit dem gelben Break gefahren. Das erste Mal wurden die Kochgeräte, Obstkörbe, Teller und Besteck, Fleischkiste, Stühle für die Grosseltern etc. aufgeladen und mit den Hauptpersonen, denen das Kochen anvertraut wurde, hingefahren. Wir fuhren dann mit den Eltern und Grosseltern in einer zweiten Fuhre nach, wobei jeder der Kinder bestrebt war, den Platz auf dem Bock zu erobern. Beim Auspacken war bei unserer Ankunft wenig mehr zu helfen, es galt nur noch für die Decke der unglücklichen Hängematte einen Platz zu finden. Auch Feuerstelle war schon gesäubert und Onkel Hermann hatte zwei gegabelte Äste mit der Säge seines Taschenmessers abgesägt und gleichmässig in den Boden gesteckt, um darauf den mitgebrachten Spiess mit dem Zigeunerbraten zu legen. Wir Kinder zerstoben bald auf die gegenüberliegende Seite der Strasse, wo es Erd- und Heidelbeeren gab, aber dazwischen lockte uns immer wieder das Knistern des lustig prasselnden Feuers zurück, über dem der Spiess feierlich und sachkundig gedreht wurde. Dann hoch das fröhliche Schmausen an. Das Sonnenlicht flimmerte über die Waldwiese, die von den trockenen Tannennadeln und dem Harz der Bäume roch und über die das feine Zirpen der Heuschrecken schwirrte. Nachher suchte sich ein jedes seinen Platz zum Mittagsschläfchen, Papa immer im Schatten, wir Kinder in der Sonne.
Ein anderer Ausflug, der aber nicht jedes Jahr zustande kam, war die Expedition nach Kunkels, dem über Tamins gelegenen, zu Reichenau gehörenden Maiensäss. Über Tamins und die Rüfe, über die jetzt eine mit Tunneln und Stützmauern ausgebaute Strasse führt, ging es, auf einem schmalen Geröllweg, in drückender Hitze, steil hinauf. Mama, die sehr ausdauernd und gern marschierte, musste da gegen den Schwindel, an dem sie von jeher litt, ankämpfen. Verschiedene Touren, die mich seither, auch von Vättis herkommend, über den Kunkels führten, haben meine früheren Eindrücke der Reichenauer Ausflüge verwischt. Geblieben ist mir nur, dass ich hier unter der Führung meines Paten, Onkel Alfred, meine ersten Alpenrosen fand.
Zu den alljährlichen Besuchen in Chur wurde der Wagen jeweilen im Welschen Dörfli eingestellt und die kurzen Strecken der Stadt zu Fuss durchwandert. Sie galten vor allem Grosspapas dort verheirateten Schwestern: Tante Betty an der gemütlichen Ross-Strasse mit den in der Sonne blitzenden Messingknöpfen am Treppengeländer, dem kühlen Saal und dem reizvoll altmodischen, terassenartigen Garten; Tante Henriette, mit dem spitzwegartig winkligen Hauseingang, rotsamtenen Truhen im Hausflur des ersten Stockes, der silbernen Salis-Krone auf der Ebenholzuhrenkapsel an der Châtelaine und dem gütigen Onkel Anton. Vor der von Grosspapas Bruder, Onkel Jacques, mitten in Chur erbauten Villa bestaunten wir nur durch die Gitterstäbe die ägyptischen Sphinxen in dem prächtig gepflegten Garten, da die „Villaner“ um diese Zeit nicht in Chur waren. Festlich war, zehn Jahre später, dort der Empfang anlässlich der Calvenfeier, an dem sich Franz und Esther verlobten. Regelmässig wurde auch Frau Zuan-Salis, Mamas Freundin, besucht, deren studentenliederpfeifender Dompfaff etwas ganz Besonderes war. Die Wagenfahrten ins Domleschg gingen nach Fürstenau zu Herr Peter und Frau Eva Planta, nach Ortenstein zu Frau von Juvalta und zu Fräulein Fanny Flugy in ihrem idyllischen Noueins. Auch Rothenbrunnen, Grosspapas Sorgenkind, dessen eisenhaltige Quelle er als Erster analysiert hatte und an dessen Kurhausbau er sich als Aktionär beteiligt hatte, wurde besucht. Eine weitere, alljährliche Wagenfahrt ging nach Flims, die heisse Landstrasse hinauf meist im Schritt, sodass wir grösstenteils zu Fuss neben dem Wagen hergingen und froh waren, wenn wir, bei den Trinser Mühlen, durch den Wald hinauf die Abkürzung machen durften. Vor dem „Waldhaus“, damals wohl dem einzigen Hotel, standen der Wirt Guggenbühl und seine Schwester zur Begrüssung bereit, die von Grosspapa mit seinem „Serviteur“ beantwortet wurde.
In diesen Blättern sucht man vergebens nach einem Bild unserer Grosseltern. Von dem Enkel gezeichnet, könnte ein solches leicht als Schönfärberei oder als Analyse und Kritik ausfallen. Da ich von den Grosseltern nur Güte erfahren und ihnen so vieles zu verdanken habe, widerstrebt mir beides. Die, für die ich dies schreibe, haben sie gekannt und werden, jedes in seiner Weise, ihr Andenken bewahren.
Sils-Maria, im Januar 1942
Schloss Reichenau – „…das alljährlich ersehnte Endziel von uns Ferienkindern zwischen 1880 und 1900“
Archivschlummer der „Ferienerinnerungen“ Wilhelm („Willy“) von Muralt-Bodmer (1876-1964); Publiziert im Bündner Monatsblatt (2012)
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